„Ecodefense!“-AktivistInnen berichten
Im März 2007 wird die russische Umweltorganisation „Ecodefense!“, für die wir als Ko-Vorsitzende arbeiten, auf Einladung deutscher Anti-Atom-Initiativen eine Vortragsreise durch Deutschland unternehmen. Dabei geht es um den Export von deutschem Uranmüll aus der Urananreicherungsanlage (UAA) Gronau nach Russland, der schon seit den 90er Jahren stattfindet und lange in Russland völlig geheimgehalten wurde.
2004 haben wir zum ersten Mal von diesen internationalen Atommülltransporten gehört und noch im selben Jahr eine Kampagne dagegen gestartet. Inzwischen kooperieren wir mit Anti-Atom-Gruppen in Deutschland. Unser Ziel ist der komplette Stopp der Urantransporte.
Wir wissen, dass die transnationale Urenco Holding als Betreiberin der Gronauer UAA ihren abgereicherten Uranmüll nicht an den eigenen Atomstandorten verwerten oder lagern will, weil dies sehr teuer wäre und ihr Urangeschäft damit zum Erliegen gebracht würde. Also entschied sich die Urenco, den Atommüll nach Russland zu schicken, wo geheime Atomanlagen des Militärs den Müll für wenig Geld gerne entgegennehmen.
Viele deutsche TouristInnen erleben in Moskau, St. Petersburg oder einigen anderen Großstädten eine rasche wirtschaftliche Entwicklung; Moskau ist z.B. die teuerste Stadt der Welt. Aber es gibt Städte in Russland, die nicht mit Moskau oder irgendeiner anderen offenen Stadt zu vergleichen sind: Die sogenannten „Geschlossenen Städte“ sind ein Erbe der Sowjetunion und gehören normalerweise zu einer Militäranlage. Dort werden (Atom-)Bomben produziert oder eben Uran angereichert.
Die Geschlossenen Städte haben eine Bevölkerung von 10 bis 300.000 EinwohnerInnen und sind komplett mit Stacheldrahtzäunen abgesperrt. Niemand kann die Städte ohne besondere Erlaubnis des KGB-Nachfolgers FSB oder des Atomministeriums betreten; für die meisten Menschen – auch für uns – ein hoffnungsloses Unterfangen. Die BewohnerInnen der Geschlossenen Städte dürfen inzwischen den Militärbereich verlassen und außerhalb arbeiten oder einkaufen, aber sie wohnen noch immer von Stacheldraht umgeben. Und sie werden vollständig vom Geheimdienst überwacht.
Warum ziehen die Menschen dann nicht weg?
Nun, einige fürchten, „draußen“ keinen Job zu bekommen, andere glauben, draußen werde es ihnen noch schlechter gehen. Sie haben keinen Ort, an dem sie willkommen wären. Zudem werden sie vom System relativ gut bezahlt. Sie wissen, dass der KGB/FSB schützend einschreitet, wenn in einer militärischen Einrichtung etwas passiert, z.B. indem er die Informationsverbreitung verhindert.
Die Menschen wissen, dass sie in diesem System keine Rechte haben, aber sie geben sich mit der Garantie eines guten Jobs und einer stabilen Versorgung zufrieden. Dieses Denken hat sich seit den Zeiten der UdSSR nicht geändert, und die russische Regierung tut alles, damit es so bleibt. Auf den meisten internationalen Landkarten wird man die Geschlossenen Städte vergeblich suchen, weil die Regierung noch immer ihre Geheimnisse bewahren möchte.
Und genau in diese Städte schickt die deutsche Urenco-Tochter (Urenco Deutschland GmbH) ihren radioaktiven Abfall zur Endlagerung. Nach unseren Recherchen handelt es sich dabei um vier Orte am Ural und in Sibirien, die über eigene Urananreicherungsanlagen verfügen: 1. Novouralsk, in der Nähe der drittgrößten russischen Stadt Ekaterinburg; 2. Angarsk, in der Nähe des Baikalsees bei Irkutsk; 3. Seversk, in der Nähe von Tomsk und 4. Zelenogorsk bei Krasnojarsk.
Die Atomindustrie redet offiziell von „teuren Wertstoffen“, die nach der Wiederanreicherung nach Gronau zurückkommen sollen. Doch in Wirklichkeit geht der Urenco-Müll beim Überschreiten der russischen Grenze in russisches Eigentum über, ohne jede Rücknahmeverpflichtung.
Allein von 1996 bis 2001 (leider haben wir nur für diese Jahre verlässliche Mengenangaben) schickte die Gronauer Urenco 9.740 Tonnen Uranmüll nach Russland. Für den Zeitraum 2001 bis 2006 sind ungefähr dieselben Mengen anzunehmen, aber die genauen Zahlen werden geheimgehalten. Dementsprechend wurden zwischen 1996 und 2006 rund 19.000 Tonnen Atommüll von Gronau nach Russland geliefert. Während der Gewinn aus diesem Geschäft an die Urenco und wahrscheinlich auch an hochrangige Angestellte von Rosatom, der staatlichen Atomenergieaufsichtsbehörde, geht, gefährdet der Atommüll die russische Bevölkerung.
Die Proteste nehmen zu
Die letzten zwei Jahre waren ein Durchbruch im Kampf gegen die Uranmüll-Transporte der Urenco. Im Sommer 2005 organisierten wir ein Protestcamp mit mehr als 100 TeilnehmerInnen in Ekaterinburg. Dies war die erste größere Aktion gegen die Urenco in Russland. Ein Report über den Atommüllhandel zwischen der russischen und deutschen Atomindustrie erreichte mit Hilfe von Zeitungsveröffentlichungen und lokalen TV-Sendungen mehr als 2 Millionen Menschen.
2006 verdichteten sich unsere Aktivitäten. Im April wandte sich „Ecodefense!“ an Umweltgruppen im ganzen Land, um zum 20. Tschernobyl-Jahrestag Proteste gegen den Import von Atommüll zu organisieren. In 12 Großstädten kam es zu Aktionen. Im Juni erreichte ein weiterer Urenco-Urantransport Russland, und es kam in Sankt-Petersburg, Moskau und am wahrscheinlichen Zielort, Ekaterinburg, zu Protesten. Im Sommer trafen sich schließlich AktivistInnen aus einem Dutzend russischer Städte bei einem „Ecodefense!“-Anti-Atom-Camp in Tomsk. Bei einer Aktion gegen den Atommüllimport wurden 12 Leute festgenommen, nachdem sie erfolgreich auf dem Gebäude des örtlichen Gouverneurs ein Transparent mit der Aufschrift „Kein Import von Atommüll“ entrollt hatten.
Tomsk ist bekannt für seine vielen Universitäten und wird deshalb oftmals als intellektuelle Hauptstadt Sibiriens bezeichnet. Es ist leider auch wegen der nahe gelegenen Geschlossenen Stadt Seversk bekannt, wo ein Teil des Urenco-Atommülls landet.
Im April 1993 erschütterte eine große Explosion die Atomanlage Seversk, und radioaktiver Dampf verstrahlte eine Fläche von mehreren 100 km2. Mehrere Ortschaften wurden mit Uran, Plutonium und anderen radioaktiven Stoffen verseucht. Im Mai 2006 wurde als Folge in einer betroffenen Ortschaft z.B. ein Kalb mit zwei Köpfen geboren.
„Trotz der radioaktiven Verseuchung wurde keine Ortschaft bis jetzt evakuiert,“ beklagte die ortsansässige Umweltschützerin Zinaida Kolomoitseva auf einer „Ecodefense!“-Demo.
„Wir müssen die gefährlichen Aktivitäten des Kombinats stoppen, bevor die gesamte russische Bevölkerung so geschädigt wird wie wir.“
Kolomoitseva stammt aus Naumovka, das genau wie der Nachbarort Georgiyevka unter den Folgen des Atomunfalls von 1993 leidet. Die BewohnerInnen von Naumovka haben beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Klage eingereicht, die derzeit verhandelt wird. Das Gericht hat kürzlich die russische Regierung aufgefordert zu erklären, warum das russische Gerichtssystem so lange die Behandlung der Klage verzögert hat.
Dieses Mal lässt sich nicht verbergen, welchen Schaden die Atomindustrie der Bevölkerung zufügt. Doch in anderen Geschlossenen Städten, wie Novouralsk oder Zelenogorsk, ist es unmöglich, an Informationen über die Lage in den Städten selbst zu bekommen, weil es dort keine freie Presse gibt und die BewohnerInnen angesichts der KGB/FSB-Kontrolle nicht darüber reden wollen. Genau diese Zwangslage nutzt die Urenco aus, um ihren Atommüll klammheimlich zu entsorgen.
Im Oktober 2006 organisierten „Ecodefense!“ und die russisch-norwegische Umweltgruppe Bellona gemeinsam einen Runden Tisch in Sankt Petersburg. Überraschend forderte die St. Petersburger Stadtverordnete Natalya Yevdokimova ein Ende des rechtlichen Wirrwarrs, der auf dem Feld der Atomtransporte herrscht. Rund 50.000 t radioaktive Stoffe werden jährlich in der 4,5 Millionen Metropole umgeschlagen. Die Urenco verschifft z.B. ihren Gronauer Uranmüll über Rotterdam nach St. Petersburg, wo er wieder auf Züge Richtung Sibirien umgeladen wird. Doch solange Putin und seine Regierung an der Macht sind, wird es wahrscheinlich kein gesetzliches Verbot geben, weil für die politische Elite die Atomindustrie absoluten Vorrang genießt. Nur Massenproteste können das ändern, wie z.B. in Irkutsk, wo Putin auf Druck lokaler Umweltgruppen die Route einer riesigen Ölpipeline verlegen musste, weil sie zu nah am Baikalsee vorbeiführen sollte.
Diese Umweltgruppen protestieren nun für einen Importstopp von Atommüll.
Atomzüge unbewacht und verstrahlt
Wenn die Dokumente der Aufsichtsbehörden stimmen, dann fahren die Atomzüge oftmals ohne jede Sicherheitsvorkehrungen. Manchmal fährt eine Wache mit, doch sind dies oftmals gerade eingezogene Rekruten, denen nicht mal gesagt wird, was sie eigentlich bewachen sollen.
Die offiziellen Dokumente verraten auch, dass alle Menschen im Umkreis von 1 km sterben würden, falls ein Behälter mit Urenco-Atommüll undicht würde. Denn das abgereicherte Uran wird als UF6 transportiert, das bei Berührung mit Luftfeuchtigkeit die hochgiftige Flusssäure bildet. Im Umkreis von 30 km stiege die Wahrscheinlichkeit, entweder zu sterben oder an Krebs zu erkranken.
Im Juli 2006 entdeckten UmweltschützerInnen mehrere unbewachte Uran-Waggons im Bahnhof von Kapitolovo bei St. Petersburg. Die Waggons waren direkt neben den Bahnsteigen für Passagiere geparkt. Die radioaktive Strahlung auf den Bahnsteigen, wo die Fahrgäste warteten, betrug 800 Mikroröntgen/Std., mehr als 40mal über dem Niveau der natürlichen Hintergrundstrahlung.
Im Oktober 2006 blockierten AktivistInnen von „Ecodefense!“ und des Aktionsbündnis Münsterland gegen Atomanlagen für eine halbe Stunde die deutsche Botschaft in Moskau, weil die deutsche Bundesregierung den Atomdeal rechtlich unterstützt. Fünf AktivistInnen wurden für einige Stunden festgenommen. Im November 2006 kam eine „Ecodefense!“-Delegation nach Gronau und nahm dort an Blockaden der UAA Gronau und Almelo teil (s. GWR 314).
Mittlerweile haben AtomkraftgegnerInnen aus Moskau, Ekaterinburg, Tomsk und Irkutsk bei der Staatsanwaltschaft Münster Strafanzeige gegen die Urenco gestellt, wegen des „Verdachts auf illegalen Atommüllexport nach Russland“.
Anfang Dezember fand zum Abschluss des Jahres eine von „Ecodefense!“ und der örtlichen Umweltorganisation Baikal Environmental Wave organisierte Demo in Irkutsk am Baikalsee statt. Bei 20° Grad minus gingen rund 250 Menschen gegen den Atommüllimport auf die Straße.
Wir gehen sehr optimistisch ins neue Jahr, denn der Widerstand in Russland und Deutschland wächst.
Wir sind überzeugt, dass wir gemeinsam die Atomindustrie und ihre kriminellen Machenschaften stoppen können.
Sowohl Urenco wie auch Rosatom sind Teil der großen internationalen Atommafia, die skrupellos das Leben der Bevölkerung aufs Spiel setzt. Wir müssen deshalb gemeinsam gegen die Atomtransporte von Russland und Deutschland kämpfen – und wir werden gewinnen.
Vladimir Slivyak (Moskau), Olga Podosenova (Ekaterinburg),
übersetzung aus dem Englischen: Matthias Eickhoff
weitere Infos: www.sofa-ms.de