Neue entwicklung im „Rollstuhl-Prozess“ gegen eine Atomkraftgegnerin vor dem Amtsgericht Lingen. Die Angeklagte prangert die ableistische Haltung der Staatsanwaltschaft in einem offenen Brief an.

Quelle

Sehr geehrter Herr 1. Staatsanwalt Schulte,

Offener Brief als Video:

Vor dem Amtsgericht Lingen läuft der sogenannte Rollstuhl-Prozess. Nach Auffassung der Osnabrücker Staatsanwaltschaft dürfen sich rollstuhlfahrende Menschen nicht mit angezogener Rollstuhlbremse an einer Sitzblockade als Protestform bei einer Demonstration beteiligen.

Hintergrund ist eine Demonstration gegen die atomare Brennelementefabrik in Lingen, wo sich vor 2 Jahren ein gefährlicher Brand ereignete.

Es hat in dieser Sache bereits mehrere Prozesstage gegeben, das Gericht verhandelte zuletzt als ich einen Rheumaschub hatte und weigerte sich dabei meinen Gesundheitszustand zu berücksichtigen. Ich hatte einen Schub in der Halswirbelsäule und konnte nicht lange sitzen ohne unerträgliche Schmerzen. Die Verhandlung wurde nach ca 4 Stunden vertagt, ich musste eine Zeugenbefragung am Boden liegend verfolgen, weil mein Antrag auf Bereitstellung eines Feldbettes abgelehnt worden war. Das Gericht vertagte und ordnete eine amtsärztliche Untersuchung zu meiner Verhandlungsfähigkeit an.

Sie, Herr erster Staatsanwalt Schulte von der Staatsanwaltschaft Osnabrück haben zu dieser Anordnung Stellung genommen. Die Stellungnahme ist meiner Meinung nach politisch motiviert, diskriminierend und ableistisch.

Sie merken an, dass ich trotz meiner Behinderung weiter politisch aktiv bin und stellen die Tatsache, dass ich Einschränkungen habe, in Frage. Dabei regen Sie die Heranziehung diverser Auskünfte aus Polizeidatenbanken über meine politischen Aktivitäten an. Auch soll überprüft werden, ob ich die kletternde Person auf einem WDR Video auf YouTube bei einer Protestaktion gegen den Export von Uranmüll aus Gronau nach Russland, bin. Unter dem Motto, wer klettern kann, hat keine Behinderung und ist nicht glaubwürdig, wenn sie erklärt, sie habe Einschränkungen.

Kennen Sie Heinrich Popow? Er kann 100 Meter in unter 13 Sekunden laufen, obwohl ihm mit neun Jahren sein linkes Bein amputiert wurde. Aus spezifischen – in meinem Fall nachweislich stark in Schüben auftretenden – Beschwerden darauf zu schließen, was Menschen können oder nicht können ist überheblich und anmaßend.

Das ist bei Gerichten und Staatsanwaltschaften aber mitnichten ausschließlich bei vermeintlich behinderten Personen so. Im Gegenteil: Es ist es charakteristisch für das gesamte Justizwesen: Einige wenige bestimmen über das Schicksal vieler. Ein gewalttätiges und einschüchterndes System, was insgesamt in Frage gestellt gehört.

Weil Sie, Herr Staatsanwalt Schulte, sich offensichtlich sehr für meinen YouTube-Kanal interessieren, antworte ich gerne per Video.

Dieser Fall zeigt wie tief Ableismus, also strukturelle Behindertenfeindlichkeit, in Ihrer Behörde – wie sicherlich auch ebenso weiteren Behörden – verankert ist. Ableismus ist genauso wie Rassismus oder auch Sexismus zu bekämpfen. Sie schreiben über eine Sache, von der Sie offensichtlich keine Ahnung haben.

Ich bin überzeugt davon, dass Ihre Weltsicht von Vorurteilen über Behinderung geprägt ist. Wenn Mensch keine Ahnung hat, sollte Mensch die Klappe halten! So meine Meinung.

Beim Ableismus geht es darum, wie nicht-behinderte Menschen das Leben von Menschen mit Behinderung bewerten; welche Bilder und Stereotypen sie im Kopf haben, wenn sie an behinderte Menschen denken. Das Wort „Ableismus“ kommt vom englischen „to be able“ ; „fähig sein“.

Und ja, Menschen mit Behinderung sind zu Dingen fähig und nicht zum Nichtstun verdammt! Ja ich habe ein Leben zwischen den Rheumaschüben! Und nein, ich lasse mir nicht ein gutes Leben nehmen, nur weil ich Rheuma habe und man mir sonst nicht glaubt, dass ich Schmerzen habe, wenn ich außergewöhnliche Dinge tue. Ja, ich habe Schmerzen wenn ich klettere. Aber das ist meine Leidenschaft und Glückshormone sind wie Schmerzmittel. Und sorry, vor Gericht bei so einem absurden Prozess wie dem Rollstuhl-Prozess, nein, da habe ich keine Glückshormone, die mir Schmerzen ersparen. Ich habe keine Kristallkugel, um Rheumaschübe vorherzusehen und kann das Ende eines Schubes nicht herbei zaubern. Schön wär’s…

Meine Erkrankung hat mich beim Klettern kreativ werden lassen. Ich klettere mit Flaschenzugtechnik, hänge viel im Gurt und bringe das Klettern anderen Menschen mit Behinderung bei. Klettern belastet meine Gelenke weniger als das Gehen oder Stehen.

Ich kann nicht alles, aber lange im Gurt hängen, das ist nicht schwer. Ich kann dagegen nicht lange stehen, da ist mein Gewicht auf meinen kaputten Knien und das tut höllisch weh. Und wenn der Kopf sowie die Halswirbelsäule, schmerzhaft ist, dann hilft frische Luft und strecken. Stundenlanges Sitzen in einer unbequemen Position verschlimmert dagegen die Beschwerden.

Vorliegend glaube ich eher, dass der Staatsanwaltschaft Osnabrück jedes Mittel Recht ist um mein politisches Engagement gegen die Atomkraft zu bekämpfen und zu kriminalisieren. Also soll mein Gesundheitszustand keine Berücksichtigung finden und meine Aussagen hierzu als unglaubwürdig dargestellt werden, weil dies einer schnellen Verurteilung im Wege steht.

Doch solange Atomanlagen laufen werde ich mich weiter gegen die Atomkraft engagieren. Mit und ohne Rollstuhlsbremse, mit und ohne Kletterausrüstung mit und ohne Kamera.

Ja, mein Engagement ist und bleibt vielfältig.

Salutations Antinucléaires

Cécile Lecomte

Hintergründe zum Rollstuhlprozess: https://blog.eichhoernchen.fr/post/tag/rollstuhlprozess2020/